80 Jahre Sesselbahn Pustevny

05.06.2020 | Bahnen, Slider

Vor 80 Jahren wurde in den Mährisch-Schlesischen Beskiden in Tschechien die erste Sesselbahn in Europa eröffnet.

Not macht erfinderisch

Nach der Zwangsübergabe der Grenzgebiete Tschechiens dem Deutschen Reich im Herbst 1938 und nach der Trennung der Slowakei und Entstehung des Protektorates Böhmen und Mähren im März 1939 verlor Tschechien unter anderem auch die meisten Berggebiete des Landes. Somit verloren die tschechischen Touristen mit Ausnahme der Standseilbahn Petřín in Prag auch alle damaligen Seilbahnen. Von den restlichen Bergen erreichten nur die Mährisch-Schlesischen Beskiden eine Meereshöhe von 1.000 m. Zu diesen Zeiten hatte die tschechische Maschinenbaufirma František Wiesner in Chrudim schon Erfahrungen mit dem Bau von Materialseilbahnen und mit vier Pendelbahnen in der Tschechoslowakei. Die ursprünglichen Pläne auf den Bau einer Pendelbahn auf einen der Gipfel in den Beskiden wurden wegen dem drohenden Krieg verworfen, und es wurde nach einer billigeren und vor allem schnell umsetzbaren Lösung gesucht. So entschied sich im Dezember 1939 der Tschechische Skiverband in Prag die Firma Wiesner mit der Projektierung und mit dem Bau eines Sesselliftes zu beauftragen. Er sollte aus dem Ortsteil Ráztoka der Gemeinde Trojanovice auf den 1.020 m hohen Bergsattel Pustevny führen.

Foto: Roman Gric

Zu den Tourismusmagneten von Pustevny gehört auch dieses heute als Hotel betriebene Bauwerk Maměnka im folkloristischen Jugendstil aus dem Jahr 1899 des slowakischen Architekten Dušan Jurkovič.
Foto: Roman GricFoto: Roman Gric
Die Bergstation der Doppelsesselbahn von Tatrapoma wurde als offene Umlenkstation gebaut, im Bild mit der aktuellen Sesselgeneration.
Foto: Roman Gric

Das Gebiet Pustevny und Radhošť

Auf Pustevny stehen seit 1899 malerische Berghütten im folkloristischen Jugendstil des slowakischen Architekten Dušan Jurkovič und seit 1898 auf dem unweiten Berg Radhošť (1.129 m ü. M.) eine Kapelle der Slawenapostel Kyrill und Method das höchstgelegene sakrale Bauwerk in Tschechien. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden auf Pustevny die zwei Berghotels Tanečnica und Radegast gebaut. Das Gebiet Pustevny – Radhošť war und ist das touristisch meistbesuchte Gebiet in den Mährisch-Schlesischen Beskiden und ein Wallfahrtsort zugleich.

Liftbau in Rekordzeit

Der Bau des ersten fixen Einsesselliftes Europas verlief in auch aus der heutigen Sicht extrem kurzer Bauzeit und bei widrigsten Wetterbedingungen mit Temperaturen von bis zu minus 30 Grad. Am 8. Jänner 1940 wurde mit dem Bau der Bergstation angefangen und schon am 4. März 1940 wurde der öffentliche Betrieb des Liftes eröffnet. Der 36 kW starke Antrieb befand sich in der Bergstation, die talseitige Umlenkscheibe wurde mittels einer Haspel mit Flaschenzug gespannt. Die Antriebs- und die Umlenkscheibe hatten den gleichen Durchmesser von 3,00 m. Die Sessel wurden aus gebogenen Stahlrohren mit einem Gelenk und mit Sitzen aus Eichenholz gebaut. Die Sessel wurden mit dem Förderseil mittels patentgeschützten fixen Seilklemmen verbunden, für die Beförderung der Skier gab es seitlich des Sessels einen Korb, für ein kleines Gepäck auch noch ein Haken. Fußraster oder Schließbügel waren damals noch unbekannte Begriffe. Die Stützen wie auch die Stationsbauten wurden aus Holz errichtet.

Schon im ersten Betriebsjahr zeigten sich Probleme mit den in den gefrorenen Boden fundamentierten Holzstützen, die schon im Jahr 1941 durch Verstärkung der Stützen mit gebogenen Eisenbahnschienen beseitigt wurden. Neben den Sesseln gab es auf der Bahn auch sieben Lastplattformen, die zur Gepäcksbeförderung dienten. Der Sessellift erfreute sich regen Interesses, und der Betrieb war gewinnbringend.

Foto: Radim Polcer

Die Stütze Nr. 13 der Doppelsesselbahn wurde wegen der geplanten, aber nicht errichteten Mittelstation als Portalstütze gebaut.
Foto: Radim Polcer

Betrieb und Modernisierung in den Nachkriegsjahren

Nach der Auflösung des Tschechischen Skiverbandes im Zuge der politischen Änderungen nach 1948 verwalteten die ČSD (Tschechoslowakische Staatsbahnen) den Sessellift. Im Jahr 1956 fingen die ČSD mit dem Umbau des Liftes an. Neben dem neuen Antrieb, der neuen Steuerung, neuen Sesseln und dem stärkeren Förderseil wurden auch die Trassenstützen durch neue Stützen in Fachwerkkonstruktion ersetzt. Bei der Ausfahrt aus der Talstation in die steile Trassenneigung übernahmen zwei große Umlenkscheiben die Funktion der Niederhalte-Rollenbatterien. Für die Lieferung der neuen Technologie zeichnete das „Nationalunternehmen“ Transporta Chrudim verantwortlich, der verstaatlichte Nachfolger der Firma von František Wiesner. In wenigen Jahren wechselte die Bahn wieder ihren Inhaber von den ČSD zur Verwaltung der Sportanlagen ČSTV. Bis zur Einstellung des Betriebes Ende 1982 beförderte diese Pionierbahn an die 6 Mio. Fahrgäste.

Foto: Archiv Roman Gric

Der Einsessellift Pustevny war die allererste öffentliche Sesselbahn Europas. Im Bild im Originalzustand mit Holzstützen.
Foto: Archiv Roman GricFoto: Archiv Roman Gric
Nach dem Umbau im Jahr 1956 bekam der Einsessellift Stahlstützen in Fachwerkkonstruktion.
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Im Zuge des Umbaus im Jahr 1956 wurden bei der Talstation zwei große Niederhalte-Umlenkscheiben eingebaut.
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Die Sessel Baujahr 1956 hatten im Vergleich zur ursprünglichen Ausführung schon viel höhere Rücklehnen. Fußrasten und Schließbügel waren immer noch kein Thema.
Foto: Archiv Radim Polcer

Foto: Roman Gric

In den ersten Betriebsjahren nach dem Ersatz des alten Einsesselliftes durch die Doppelsesselbahn wurde bei der Talstation eine Infotafel des Herstellers aufgestellt.
Foto: Roman Gric

Neue Bahn in veränderter Trassenführung

Auch wenn schon in den 70er Jahren der Ersatz des Sesselliftes durch eine neue Anlage beschlossen wurde, zogen sich die Bauarbeiten in den Bedingungen der sozialistischen Planwirtschaft durch drei Jahre von 1983 bis 1986. Gebaut wurde eine fixe Doppelsesselbahn des slowakischen Herstellers Tatrapoma nach der Lizenz von Poma. Die Talstation wurde tiefer ins Tal verlegt, was zu einer nahezu verdoppelten Bahnlänge führte. Wesentlich erhöht wurde auch die Förderleistung. Neuerlich wurde der Antrieb mit der hydraulischen Spanneinrichtung in die Talstation verlegt. Die Konstruktion dieser Station der Type Delta mit ihrem zeitlosen Design entwarf für die Firma Poma der industrielle Designer Alphonse Lisa. Von ihm stammt auch das Design der Sessel in Form von „Wassertropfen“, die auf dieser Bahn bis 2012 in Betrieb waren. Die Bergstation wurde als offene Umlenkstation gebaut. Im Jahr 1991 ging die Bahn in den Besitz des Sportklubs Skialpin Pustevny über, der im Jahr 2006 in eine GmbH umgewandelt wurde. Heute betreibt die Gesellschaft Pustevny s.r.o die Bahn. mit einem Anteil der Gemeinde Trojanovice.

Im Jahr 2012 wurden die ursprünglichen Sessel durch einen neueren Sesseltyp der Firma Tatrapoma ausgetauscht, die zuvor auf der Doppelsesselbahn Ustroń – Czantoria in Polen in Betrieb waren und die im Jahr 2006 durch eine kuppelbare 4er-Sesselbahn von Doppelmayr ersetzt wurde. Im Jahr 2016 wurde das ursprüngliche Mehrzweckgebäude bei der Bergstation abgebaut und im August 2017 durch ein neues Bauwerk aus Stein, Holz und Glas ersetzt. Durch das Gebäude führt der Zugang zur Seilbahn und neben den Sanitärräumen befinden sich hier ein Restaurant und ein Souveniershop.

Die Feierlichkeiten zum 80. Jubiläum der Sesselbahn Pustevny vom 3. bis 8. März 2020 mit reichlichem Begleitungsprogramm hat man noch knapp vor den Einschränkungen wegen der Coronavirus-Pandemie geschafft.

Foto: Radim Polcer

Die Doppelsesselbahn ist auch bei Wintersportlern beliebt.
Foto: Radim Polcer

Geplanter Neubau

Die Beförderung der Touristen auf offenen Sesseln mit der sommerlichen Geschwindigkeit von 2,0 m/s ist besonders bei wechselhaftem Wetter problematisch und entspricht nicht mehr den heutigen Komfortanforderungen. Schon seit einigen Jahren ist der Ersatz der aktuellen Doppelsesselbahn durch eine Kabinenbahn geplant. Im Herbst 2019 wurde die Baubewilligung für den Bau einer 10er-Kabinenbahn mit einer Förderleistung von 1.100 P/h erteilt. Die neue Kabinenbahn kommt mit viel weniger Trassenstützen als die gegenwärtige Sesselbahn aus. Für die geplante Investition für die neue Bahn von etwa 150 Mio. tschechischen Kronen (etwa 5,7 Mio. Euro) wird eine Beteiligung des staatlichen Förderprogramms für die regionale Entwicklung benötigt.

Factbox

  • Die ersten Versuche, Personen sitzend auf einem auf Stahlseil aufgehängten Sessel in luftige Höhen zu befördern, wurden bei den Militärseilbahnen an der Alpenfront des Ersten Weltkrieges in den Dolomiten verzeichnet.
  • Auch in einer Kohlengrube in Ungarn beförderte seit den 1920er Jahren eine Knappen-Sesselbahn die Bergmänner sitzend durch die Stollen.
  • Der Titel des weltersten touristischen Einsesselliftes gebührt der Anlage in Sun Valley auf den Proctor and Dollar Mountain in Ketchum (Idaho, USA), gebaut von der Union Pacific Railroad Company im Jahr 1936.
  • Der erste Einsessellift Europas Ráztoka – Pustevny wurde im März 1940 eröffnet.
  • In den Alpen wurden die ersten Fahrgäste mit dem Einsessellift Trübsee – Jochpass in Engelberg im Jahr 1944 befördert. An dieser Anlage standen bei Schlechtwetter versuchsweise auch zwei kleine tonnenförmige Stehkabinen zur Verfügung. Im Winter war der Lift als Schlepplift in Betrieb.
  • Die erste kuppelbare Sesselbahn mit Doppelsesseln quer zur Bahnachse wurde von der Schweizer Firma Von Roll auf der Trasse Flims – Foppa im Jahr 1945 eröffnet.
  • In der Gegenwart sind in Tschechien 102 Sesselbahnen in Betrieb, 28 davon sind kuppelbare Anlagen.

Technische Daten

Bahntyp Einsessellift Einsessellift Doppelsesselbahn
Seehöhe Talstation 716 m 716 m 620 m
Seehöhe Bergstation 1.020 m 1.020 m 1.020 m
Schräge Länge 887 m 887 m 1.637 m
Höhenunterschied 304 m 304 m 400 m
Stützenanzahl 18 21 18
Förderseildurchmesser 23,5 mm 28,0 mm 33,5 mm
Antrieb Berg Berg Tal
Motorleistung 36 kW 47 kW 160 kW
Spanneinrichtung Tal Tal Tal
Sesselanzahl 81 + 7 Lastplattformen 89 164 (neu 162)
Max. Fahrgeschwindigkeit 1,2 m/s 1,8 m/s 2,5 m/s
Fahrzeit 12,0 min 8,1 min 10,9 min.
Max. Förderleistung 216 P/h 321 P/h 900 P/h (im Winter)
Hersteller František Wiesner, Chrudim Transporta Chrudim Tatrapoma, Kežmarok
In Betrieb 1940 – 1956 1956 – 1982 1. Jänner 1987 – heute

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